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Nachbericht: Über der Stadt – Die Dachlandschaft als Möglichkeitsraum

30. Juni 2022

Foto: Elke Beccard
Foto: Elke Beccard
von links: Markus Pieper, GREENBOX Landschaftsarchitekten; Johannes Schilling, Schilling Architekten; Thomas Knüvener, BDA Köln Vorstand; Wolfgang Grüne, Exner Grüne Innovation GmbH

Die Zukunft der Stadt liegt auf den Dächern, schon Le Corbusier wusste das: „Der Dachgarten wird zum bevorzugten Aufenthaltsort des Hauses und bedeutet außerdem für eine Stadt den Wiedergewinn ihrer bebauten Fläche,“ schrieb er in seinem Traktat „Ausblick auf eine Architektur“ von 1923.

Beide Aspekte – die Poesie des Ortes und der Wiedergewinn der bebauten Flächen für die Natur – rücken das Dach heute mehr denn je in den Fokus. Neben der angestrebten CO2 Reduzierung ist auch der Flächenverbrauch in Deutschland einzuschränken. Im Jahr 2020 sollten „nur“ noch 30 Hektar Fläche pro Tag versiegelt werden. Das Ziel wird dramatisch verfehlt: Es sind immer noch 54 Hektar, die Tag für Tag denaturiert werden. Gründächer anzulegen und zu nutzen, das allein ist kein Mittel gegen den Flächenfraß. Sie helfen aber bei einer qualitätvollen Nachverdichtung der Städte und tragen dazu bei, ihre Überhitzung zu mindern.

Abb. Greenbox Landschaftsarchitekten, RAG Zentrale Essen im Vordergrund
Abb. Greenbox Landschaftsarchitekten, RAG Zentrale Essen im Vordergrund

Fließende Landschaften

Markus Pieper von GREENBOX beobachtet, dass „die Wertschätzung des Dachgartens in den letzten fünf bis zehn Jahren deutlich gestiegen ist.“ Nicht nur irgendeine Fläche wiedergewonnen, sondern die des Weltkulturerbes Zeche Zollverein haben die Landschaftsarchitekten mit dem begrünten Dach der RAG Zentrale in Essen.

Abb. Greenbox Landschaftsarchitekten, Deutschlandzentrale Lidl
Abb. Greenbox Landschaftsarchitekten, Deutschlandzentrale Lidl

Im beschaulichen Bad Wimpfen ging es um mehr als nur um das Dach: „Es war unser kompliziertestes Projekt bisher, wir wollten diese riesige Baumasse für die Deutschlandzentrale von Lidl auf einem vier Hektar großen Grundstück in die intakte Landschaft am Rande der Kleinstadt integrieren,“ so Pieper. Das Gebäude selbst zeigt sich als fließende Landschaft mit begrünten Dächern und Innenhöfen und Streuobstwiesen an den Rändern.

Auch in Köln entsteht ein Projekt in Kooperation zwischen GREENBOX und Kadawittfeldarchitektur: der LVR Neubau am Ottoplatz. „Zur nüchternen, aufgeräumten Fassade haben wir den Außenraum bewusst naturhaft entworfen und dem Ensemble einen menschlichen Maßstab gegeben,“ sagt Pieper. „Wir haben die Konzeption aus dem Ort heraus erarbeitet; Kiesel und Wasser stehen für den nahegelegenen Rhein.“ Totholz, Bienenboxen, Auenwiesen und mehrstämmige Gehölze werden das Bild abrunden.

Abb. Exner Grüne Innovation
Abb. Exner Grüne Innovation

Jobsalat aus dem Altmarktgarten

Aufs Dach klettern zum Ernten, das ist der Job von Wolfgang Grüne. Er heißt wirklich so und ist Experte für Pflanzen und Anbau, sein Unternehmen Exner Grüne Innovation GmbH ist u.a. spezialisiert auf Dachgewächshäuser und vertikale Anbausysteme.

Auf dem von kühn malvezzi geplanten Gebäude der Arbeitsagentur am Altmarkt in Oberhausen betreibt die Firma ein Dachgewächshaus. Die Außenhaut besteht meistenteils aus mikrostrukturiertem Doppelglas mit sehr starker Lichtstreuung – was gut ist für die Tomaten. Das Gewächshaus nutzt nicht einfach nur die Fläche auf dem Jobcenter, sondern ist in dessen haustechnische Abläufe integriert, zum Beispiel indem ihm die erwärmte Abluft aus den Büros zugeleitet wird.

Salatköpfe gedeihen in sogenannten DFT Systemen – das steht für Deep Flow Technique, bei der Pflanzen nicht in Erde, sondern auf nährstoffhaltigem Wasser gedeihen. „95% des Supermarktgemüses wächst auf diese Weise,“ versichert Grüne. Erdbeeren erntet er von Stellagen mit Tröpfenbewässerung, und auch Kräuter vom Dach sind im Angebot. Die Produkte zu vermarkten ist eine Herausforderung für die Betreiber. Ein Teil geht an die lokale Gastronomie, und der eigens entwickelte „Jobsalat“ findet gut Abnehmer. „Wirtschaftlichkeit bei einem solchen Projekt kann entstehen,“ so Grüne auf eine Frage aus dem Publikum, „wenn man eine zusätzliche Dimension hinzunimmt und Vermittlung in Form von Touren und Seminaren anbietet.“

Abb. Modell Heliosschule Köln, Schilling Architekten
Abb. Modell Heliosschule Köln, Schilling Architekten

Möglichkeitsraum Schule

Multifunktional wird es auf der Heliosschule in Ehrenfeld: Ein beengtes Gelände steht zur Verfügung, so dass sich technische Anlagen, Regenspeicher, eine Insektenweide und auch Flächen zum Spielen und Lernen für die Grund- und Gesamtschule auf dem Dach wiederfinden werden. Aufs Dach zu gehen, das passt auch gut zum pädagogischen Konzept der Montessori- und Universitätsschule, die sich als Möglichkeitsraum sieht und den Schüler*innen nicht die üblichen Klassenzimmer rechts und links vom Flur anbietet, sondern flexible Lernlandschaften, die zum selbstbestimmten Lernen anregen sollen.

Schilling Architekten planen die Schule als Gestalt mit offenen Höfen und Terrassen, die genauso zur Pause für die „kleineren“ Klassen, die sich nicht auf dem öffentlich zugänglichen Schulhof aufhalten dürfen, wie auch als Lernflächen genutzt werden können. „Wichtig ist uns, dass alle Ebenen miteinander verbunden sind,“ betont Johannes Schilling. „Die Struktur haben wir Schritt für Schritt mit dem Lehrpersonal erarbeitet. Die Freibereiche sind intensiv gestaltet und eignen sich auch für den Unterricht im Freien.“ Die Höfe gelten als Fluchtwege, so dass über die gängige Größe eines Brandabschnitts hinaus große, ineinander flutende Lernlandschaften entstehen können.

Die Solaranlagen sind für 155 kWp angelegt, können aber zunächst nur eingeschränkt in Betrieb genommen werden, da bei einer Einspeisung ab 100 kWp derzeit für den Anlagenbetreiber noch eine Vermarktungspflicht besteht, der die Stadt als Bauherrin nicht nachkommen kann.

Weniger machen, mehr werden lassen

In der anschließenden Diskussion ging es vor allem um Umsetzungsfragen: Wie hoch ist der Aufwand für die Planung und die Wartung der vorgestellten Dachgärten? „Die normale TGA Planung kann das nicht stemmen, wir haben beträchtliches Knowhow dafür aufgebaut,“ räumt Marcus Pieper ein. „Aber die Bewässerung ist einfach, alles läuft vollautomatisch.“ Auch Johannes Schilling sieht in den aktuellen Dachgartenprojekten viel Planung und Technik und wünscht sich, „dass man nicht so viel macht, sondern mehr werden lässt.“ Ein sehr gärtnerischer Ansatz, der sich gut beherzigen ließe bei der weiteren Erschließung von Möglichkeitsräumen auf dem Dach.

Autorin: Ira Scheibe


LINK ZUM NACHHÖREN DER VERANSTALTUNG:

https://www.youtube.com/watch?v=WtRwQv086Ws